Winterbucht - Roman by Mats Wahl

Winterbucht - Roman by Mats Wahl

Autor:Mats Wahl [Wahl, Mats]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-407-74318-3
Herausgeber: Beltz
veröffentlicht: 1995-03-15T00:00:00+00:00


23

Geliebte Schwestern & hochverehrte Brüder, sagt mir – was ist Liebe?

Lange bevor der Scheißhaufen bei uns eingezogen ist, habe ich Mama gefragt: »Du und Papa, habt ihr gefickt?«

»Nein«, hat Mama gesagt. »Haben wir nicht, wir haben Liebe gemacht.«

»Hat Papa dich geliebt?«, habe ich gefragt.

»Ja«, hat Mama geantwortet.

»Aber warum ist er dann nach Amerika gegangen?«

»Er hatte seinen Job als Schauspieler«, hat Mama gesagt. »Und er konnte kein Schwedisch, darum musste er dorthin zurück, wo er mit der englischen Sprache arbeiten konnte.«

»Aber warum hat er dich nicht mitgenommen, wenn er dich geliebt hat?«, habe ich gefragt.

Mama wendete sich ab.

»Warum?«, habe ich weitergefragt. »Und warum hat er mich nicht mitgenommen? Hat er mich nicht lieb gehabt?«

Auf diese Frage wusste Mama keine Antwort. Sie ist auf den Balkon gegangen und hat sich eine Zigarette angezündet. An dem Tag habe ich, soweit ich mich erinnern kann, festgestellt, dass ich mit den Ohren wackeln kann.

Geliebte Brüder & hochverehrte Schwestern – sagt es mir schnell, weil ich es unbedingt wissen muss –, was ist Liebe?

Ich renne die Madison Avenue entlang und heule wie ein kleines Kind. Die ganze Zeit glaube ich, sie zu sehen. Ich renne an Frauen vorbei und stelle mich vor sie, um ihnen ins Gesicht sehen zu können, aber nie ist sie es. Neben mir hält ein Polizeiauto und einer der Polizisten leuchtet mir mit einer starken Taschenlampe ins Gesicht. Ich knote einen Schnürsenkel zu, der aufgegangen ist. Das Polizeiauto gleitet weiter. Ich setze mich an den Bürgersteigrand und lege den Kopf in die Hände.

»Elisabeth«, sage ich zu mir selbst.

Ein Passant wirft mir eine Silbermünze zu. Sie bleibt auf dem Asphalt vor meinen Füßen liegen. Ich habe die Sportschuhe mit den abgeschnittenen Kappen an, meine großen Zehen ragen raus. Ich stehe auf und gehe weiter die Straße entlang. Vor einem Restaurant hat sich eine Schlange auf dem Bürgersteig gebildet. Das Restaurant heißt Polonius.

Ich werfe einen Blick durch das große Fenster und sehe sie. Ihr Gesicht ist dem Fenster zugewandt. Sie ist gerade dabei, sich zu setzen. Ihr gegenüber setzt sich ein großer Mann an den Tisch. Ich sehe, wie sie ihm zulacht. Er legt seine Hand auf ihre. Ich gehe zum Türsteher.

»Ich muss unbedingt hier rein.«

Der Türsteher trägt einen langen, weinroten Mantel mit goldenen Schulterklappen und einen hohen, schwarzen Hut mit goldenem Federbusch.

»Stell dich hinten an«, sagt er, ohne mich anzusehen.

»Da drinnen ist jemand, den ich kenne.«

»Hinten anstellen«, sagt er und legt seine Handfläche auf meine Brust. Die Hand ist so groß, dass sie meinen ganzen Brustkorb bedeckt. Er trägt Gummihandschuhe.

»Ich kann aber nicht warten!«, rufe ich.

»Hinten anstellen«, sagt der Große und schubst mich, so dass ich zwischen die Wartenden falle.

»Stell dich gefälligst hinten an«, faucht eine Frau, die ganz in schwarzes Leder gekleidet ist. Ich kann von meinem Platz aus in das Fenster schauen. Ein Kellner kommt mit einem Weinkühler, in dem eine Flasche steht.

Da kommt ein einbeiniger Junge auf Krücken angehumpelt. Er wackelt mit den Ohren und zaubert Taschentücher aus der Nase hervor. Er bleibt stehen und hält mir einen Blechbecher entgegen.

»Srodjan!«, sage ich.



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